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Kühler Wind zog auf. Die Luft duftete nach feuchtem Wald. Hier auf der Nordseite ragten die Kronen der Bäume über die Straße. Es war beinahe dunkel.
Kjell schlurfte erschöpft über den Rasen. Vor der Ausfahrt sah er Sofi mit Barbro und Henning stehen. Die beiden waren also endlich eingetroffen.
Botschafter Maero sah keine Verbindung zwischen den beiden Ereignissen. Während der Tod von Fabia Terni ihn sichtlich aus der Fassung gebracht hatte, schien ihn beim Auftauchen der verkleideten Männer nur die Störung des Sommerfestes beunruhigt zu haben, und er hätte es vorgezogen, wenn seine Konsularsekretärin die Polizei gar nicht erst gerufen hätte. Keinem der Gäste wäre dann aufgefallen, dass der Vorfall kein arrangiertes Spektakel gewesen war.
Allerdings war dieser letzte Gedanke nicht ganz richtig, dachte Kjell beim Schlurfen. Es war durchaus ein arrangiertes Spektakel gewesen, nur war Maero offenbar nicht der Auftraggeber.
„Irgendetwas Neues?“, fragte Kjell, als er seine Kollegen erreichte. Inzwischen waren nur noch sie übrig sowie ein halbes Dutzend uniformierter Polizisten.
Sofi schüttelte den Kopf. „Die Suchtrupps haben nichts gefunden. Aber Per müsste bald fertig sein.“
Zu viert steuerten sie auf Pers Transit zu. Nachdem die Limousinen abgefahren waren, stand er einsam ein ganzes Stück die Straße hinab.
„Etwas stimmt mit dem Botschafter nicht“, murmelte Kjell. Er wollte es eigentlich nur zu sich selbst sagen. Drinnen hatte er nicht mehr als eine gewisse Irritation gespürt, und es war ihm schwer gefallen, einen plausiblen Verdacht zu konstruieren. Er berichtet vom Verlauf des Gesprächs. „Er muss nun zuerst Rom verständigen und bittet uns, die Sache diskret zu behandeln. Vor allem, was den Verdacht angeht, dass Fabia Ternis Unfall in Wahrheit ein Überfall war.“
„Ein Überfall?“, wunderte sich Henning. „Auf den Gedanken bin ich bisher gar nicht gekommen. Ich habe die ganze Zeit an ein Attentat gedacht, das sich gegen das Leben dieser Frau richtet.“
„Bei einem Kurier mit so brisantem Auftrag ist ihr Gepäck wichtiger als die Person selbst. Und die Zeugenaussagen deuten ja auch in diese Richtung.“
Barbro blieb abrupt stehen. „Moment, du hast doch gerade gesagt, Flavia wollte noch am Freitag nach London weiterreisen.“
„Fabia“, korrigierte Sofi. „Sie heißt Fabia. Fabia Terni.“
Kjell nickte. „Sie konnte an diesem Abend weder nach Rom noch nach London fliegen. Nicht von Stockholm aus. Es ging kein Flug mehr.“
Barbro hob abwehrend die Hände, als wollte sie verhindern, dass die anderen mit ihren Kommentaren ihren Gedankengang störten. „Hat Maero ausdrücklich gesagt, dass sie der Botschaft in London auch einen Code zu überbringen hatte?“
„Das natürlich nicht. Sie hat ihm wohl nur beiläufig von London als ihrem nächsten Ziel erzählt. Von der Botschaft dort war gar nicht die Rede.“
„Das Krypto kann jedenfalls kein Schlüssel für die Londoner Botschaft sein“, sagte Sofi. „Es ist eine Nachricht, die sich auf das Gewitter am Samstag in Stockholm bezieht.“
Kjell seufzte vor Erleichterung. Daran hatte er gar nicht gedacht, als Maero ihm von Fabia Ternis Auftrag berichtete. „Wieso hatte sie dem Botschafter von London erzählt, wenn sie gar nicht dorthin wollte? Sie hat ihn angelogen.“
Henning zündete sich eine Prince an. „Ich halte die andere Möglichkeit für viel wahrscheinlicher. Maero hat dich angelogen.“
Da flog die Tür des Transits auf. Per sprang auf den Asphalt und sah sich erstaunt um. Als er sich vor einer halben Stunde in den Laderaum verkrochen hatte, war die Straße noch voller Leben gewesen.
„Wir haben eine T2-Übereinstimmung.“
„Auf dem Speer?“, fragte Sofi.
„Der Speerwerfer hat seine Abdrücke auch auf dem Krypto hinterlassen.“
Das war die Bestätigung. Dieser Bartträger war ebenfalls Charun.
Per lächelte erschöpft. Und glücklich. Als Techniker liebte er glatte Beweisketten. Für ihn war die Sache erledigt.
„Das ist es“, glaubte Barbro. „Die Verbindung zwischen den beiden Ereignissen. Charun ist die Verbindung.“
Sofi wies darauf hin, dass Fabia Terni die Ereignisse ebenfalls miteinander verknüpfte, aber Kjell hörte nur mit halbem Ohr hin. Barbro hatte recht. Die Fabia-Verbindung hatte Maero sogleich zugegeben, den Überfall jedoch abgetan. Kjell verstand sogar den Grund. Der Überfall auf die Botschaft hatte mit den Ereignissen am Sveavägen zu tun. Maero musste die Verbindung kennen, wollte aber nicht, dass die Polizei ihn auch erfuhr.
Kjell wollte den Speer sehen und kletterte in den Laderaum. Der Schaft war so lang, dass sich die Tür gerade noch schließen ließ. Er maß an die drei Meter und war so dick wie Sofis Unterarm.
„Der Schaft ist bis auf die Abdrücke nicht so interessant“, sagte Per. „Es ist frisch geschnittenes Birkenholz.“
Der Schaft verjüngte sich zur Spitze hin und war ein wenig krumm, insgesamt aber für einen natürlich gewachsenen Ast ziemlich gerade. Die Rinde war nicht abgeschält. Tatsächlich war die aufgesteckte Spitze interessanter. In ihrer Form erinnerte sie an die Stahlfeder eines Füllers oder an einen Indianerspeer. Die Farbe war sonderbar, ganz stumpfes Schwarz. Nur die Kanten glänzten.
„Die Spitze selbst ist aus Kupfer“, sagte Per und deutete auf eine Stelle, wo er den schwarzen Belag abgekratzt hatte. „Sie wurde wohl zuerst aufgesteckt und dann mit dem Speer in die Flüssigkeit getaucht oder überstrichen.“
„Ist das Gummi?“, wollte Barbro wissen.
„Riech mal!“, Per hielt ihr die Spitze vor die Nase.
Sie tippte auf Schwefel.
Per grinste teuflisch. „Es ist Pech. Also nicht das Gegenteil von Glück, sondern die Flüssigkeit, die man durch Schwelen aus harzigem Holz herstellen kann.“
„Bist du dir da sicher?“, fragte Sofi.
„Wenn du die Spitze ein wenig in der Hand hältst, wird es weich. Anscheinend wurde Ruß beigemischt, deshalb ist es so tiefschwarz. Es muss ziemlich frisch sein, wie auch der Schaft des Speeres. Das Holz ist erst heute oder gestern geschnitten worden. Hier unten am Ende sieht man es. Wahrscheinlich ist das Pech aus demselben Holz gewonnen.“
„Sie haben sich also viel Mühe gegeben“, sagte Kjell. „Aber wozu das alles? Warum kommen die hierher und werfen dem Botschafter einen Speer vor die Füße?“
Sofi erzählte von ihrem Gespräch mit Carla. Kjell sah dies als Bestätigung. Wenn die Männer hier nicht zum ersten Mal aufkreuzten, waren tatsächlich die Botschaft und Maero das Ziel.
„Mir geht es eher um Carla“, sagte Sofi. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich mit Maeros Wissen oder gar in seinem Auftrag an mich gewandt hat. Ich glaube es jedoch nicht. Die Sache scheint ihr ziemlich viel Angst einzujagen. Dabei hat sie eigentlich keinen Grund, verängstigt zu sein. Das waren die anderen Augenzeugen doch auch nicht.“
Kjell nickte vor sich hin. „Gut, aber was soll die Inszenierung?“
„Inszenierung?“
„Das Etruskische. Die Kostümierung.“
„Na ja“, sagte Sofi. „Fabia Terni stammt von den Etruskern ab.“
Kjell schüttelte den Kopf. „Das lässt sich erklären, aber die Sprache des Kryptos ist kein echtes Etruskisch.“
Henning pflichtete ihm bei. „Das alles ist nur Attrappe. Nimm mal an, Fabia wäre Schwedin. Dann würden sich ihre Cousins als Wikinger verkleiden.“
„Mich interessiert der Konflikt dahinter“, sagte Kjell. „Was soll das alles?“
Sofi setzte auf Rache. „Die Bärtige ist Etrusker und Fabia auch. Fabia ist tot, also wird der Bärtige sehr wütend und will Rache nehmen.“
Das reichte Kjell als Erklärung nicht. „Erstens war es heute Abend nicht der erste Auftritt. Der liegt genau einen Monat zurück. Zweitens sind es keine Etrusker, sondern bestenfalls Leute aus der Toskana, die alte Traditionen aufleben lassen.“
„Nicht mal das“, fügte Barbro noch hinzu. „Es gibt keine lebendigen Traditionen der alten Etrusker im heutigen Italien. Sie haben es aus Büchern oder selbst erfunden, weil die Etrusker im ersten Jahrhundert nach Christus einfach verschwunden sind. Die genetische Studie beweist das.“
„Drittens ist Rache kein elementares Mordmotiv, Sofi.“
Damit meinte Kjell die Ermittlerweisheit, dass sich alle Motive auf ein einziges Grundmotiv reduzieren ließen: Und das war Gier. Gier war sicher kein besonders differenzierter Begriff, aber ein sehr produktiver bei einer Mordermittlung. Jedes Motiv ließ sich auf Gier reduzieren, auch die Rache. Gier steckte als elementarer Impuls in jedem noch so individuellen Grund für ein Verbrechen. Und wenn es gelang, diesen Grund auf Gier zu reduzieren, konnte man die Gier meist messen und somit beurteilen, ob das Motiv stark genug für die Tat war. Gier richtete sich zudem immer auf ein Objekt, das sich identifizieren ließ. Es musste kein Gegenstand sein wie ein goldener Kelch. Auch abstrakte Dinge wie Erkenntnis oder eine Person kamen als Objekt vor. Die schematische Gleichung ‚Gier auf ein Objekt‘ war immer dann von Nutzen, wenn man ganz und gar im Dunkeln tappte oder sich nicht mehr auf seine Intuition verlassen konnte. Man musste dann die beiden Variablen ‚Gier‘ und ‚das Objekt‘ identifizieren. Der bärtige Etrusker war bestimmt wütend gewesen, aber er war nicht zweimal hergekommen, um vergeblich Rache zu nehmen. Er war hergekommen, um zu drohen. Er wollte etwas. Leider konnte das alles sein.
„Wir können kein Motiv für den Mord erkennen“, sagte Kjell. „Und das wird wegen der diplomatischen Immunität so bleiben. Deshalb gehen wir davon aus, dass es um Gier geht. Gier richtet sich auf ein Objekt. Wir suchen das Objekt.“
„Das Krypto?“
Henning ermahnte Barbro, nicht so voreilig zu sein. „Das Objekt kann abstrakt sein.“
„Das musst ausgerechnet du sagen.“
„Wenn wir das Objekt nicht aus dieser Richtung ermitteln können, postulieren wir es einfach“, schlug Kjell vor. „Jedes Objekt, auf das sich Gier richtet, lässt sich auf Macht reduzieren. Wir nehmen Gier und Macht als universale Variabeln und suchen nach etwas, was sich in die Gleichung einsetzen lässt.“
Sofi hasste Deduktion so sehr wie Bettenbeziehen und Zitroneneis. Sie wandte sich ab und starrte lieber in das Dunkel des Waldes.
Kjell trat auf sie zu. „Es klingt nur kompliziert. Ist aber ein totsicherer Workaround, Sofi.“
Sie schlenderte ein wenig auf und ab. „Ich finde es trotzdem nicht gut, dass du die etruskische Kulisse einfach übergehen willst. Auch wenn es nur Kulisse ist, kann es uns am Ende den nötigen Hinweis geben.“
„Und was schlägst du vor?“
„Ich habe Pauline Preston angerufen. Sie hätte heute Abend Zeit.“
„Du meinst, diesmal ist sie genau die Richtige, weil sie Ethnologin und das andere ist?“
„Sozialanthropologin. Deshalb.“
Ihre Kollegen einigten sich auf ein Nicken. Kjell sah auf die Uhr. Es war schon nach zehn. „Heute Abend noch? Musst du nicht morgen schon wieder nach Norden und die Mutter der armen Lovisa am Flughafen abholen?“
„Ja, leider.“
„Dann kann sie früher zum Flughafen fahren und sich die Videobänder vom vergangenen Freitag abholen“, schlug Henning vor.
„Am besten bleibst du über Nacht in Uppsala und schläfst im Linné. Dann hast du es morgen nicht weit nach Arlanda.“
Sofi nickte und ging zum Wagen. Die Zurückbleibenden verteilten die Aufgaben unter sich. Da Theresa auf ihrem Telefon nicht zu erreichen war, sollte Barbro bei ihr zu Hause vorbeifahren, damit sie gemeinsam die Reisedaten von Fabia Terni überprüfen konnten. Henning würde sich um Fabia selbst kümmern.
„Und wie bist du mit Maero verblieben?“, wollte Henning wissen.
„Wir haben ein Treffen mit einem Vertreter des Außenministeriums auf neutralem Boden vereinbart. Villa Källhagen, morgen Mittag. Das ist ein beliebtes Restaurant bei Diplomaten.“
Dreißig Meter entfernt an der Endstation ließ der stehende Bus den Motor an. Kjell verabschiedete sich und rannte los.